4.2.3.3. Das Rivellino von Locarno (Festungsreste aus dem 16. Jh.)
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Das Rivellino von Locarno - Militärarchitektur von Leonardo da Vinci?
Mitten in der Tessiner Stadt finden sich die Reste einer Festung, die zu den modernsten ihrer Zeit gehörte. Historiker vermuten, sie könnte vom berühmten Renaissancekünstler "Leonardo da Vinci" stammen! ( Bericht von Morgan Powell )
Mailand im September 1499: Die Franzosen stehen vor den Toren der Stadt. Deren einst glanzvoller Herzog, Ludovico Sforza, ist bereits zu seinem Schwager Maximilian nach Innsbruck geflohen, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Osten wird die Macht Venedigs von den Türken in Schach gehalten, im Norden nutzt die alte Eidgenossenschaft das Machtvakuum aus, um die Provinzen der Voralpen für sich einzunehmen. Die Lombardei ist der Brennpunkt einer Welt im Übergang. In Geist und Tat steht Europa an der Schwelle zur Moderne: Die einst sicheren Mauern der mittelalterlichen Schlösser bieten keinen ausreichenden Schutz mehr vor den Geschossen der neuen und immer kräftigeren Artillerie.
Auf dieser Bühne bewegt sich auch eine Handvoll heiss umworbener Ingenieure und Baumeister, deren Genie die nötige Schlagkraft und die passenden Bollwerke zu der neu entstehenden politischen Ordnung liefern soll. Hierzu gehörte auch ein junger besonders ambitionierter Florentiner – Leonardo da Vinci. In Florenz skandalumwittert und der politischen Heimtücke überdrüssig geworden, bewarb er sich 1481 um eine Anstellung bei Ludovico Sforza in Mailand. Künstlerisches Können wird in der prahlerischen Auflistung seiner Fähigkeiten nur ganz zuletzt erwähnt. Vorangestellt und als „meine höchstpersönlichen Geheimnisse“ qualifiziert, hat der Kandidat vielmehr zahlreiche Erfindungen militärischer Art: Belagerungsmaschinen, Brücken- und Tunnelbautechniken, wie auch entsprechende Gerätschaften zu deren Zerstörung, sowie allerlei Artillerie, Minen und Gewehre „wie sonst keine, die sich im Gebrauch befinden“. Leonardo da Vinci versteht sich als wahrer Meister der neuen Kriegskunst.
Castello Sforzesco

Das Castello Sfrozesco in Mailand um 1613. Leonardo da Vincis Bollwerk liegt zwischen den Türmen des alten viereckigen Schlosses. Die spätere sechseckige Befestigung darum herum zeigt, welche Zukunft diesen Prototyp erwartete. (Foto: Archivo fotografico di Milano)
Ruine im Hinterhof:
Rivellino Locarno
Der Innenraum des Bollwerkes in Locarno
Die Bewerbung war erfolgreich und so befindet sich Leonardo nach 1482 in Mailand und weilt bis 1499 dort. Aber auch hier werden – wie anderswo – Leonardo`s Skizzen und Studien nur äusserst selten in vollendete Werke umgesetzt; ausserhalb seiner Tätigkeit in der Malerei wissen wir mit Sicherheit nur von einem einzigen fertiggestellten Bauwerk; der Erweiterung des Mailänder Castello Sforzesco durch zwei Bollwerke, wie sie nördlich der Apenninen noch nie zuvor gesehen worden waren. Aus dem bestehenden Mauerwerk hervorstechend wie der Bug eines modernen Riesenfrachters, versteckten diese polygonalen Bastionen in ihrem Inneren ein raffiniertes Tunnel- und Belüftungssystem, das die Betätigung von Schwerartillerie in vollkommener Deckung ermöglichte. Heute sind nur noch zwei Fundamente aus jener Zeit erhalten – die Bastionen aber auf älteren Karten belegt und der für diese Zeit eindeutig toskanische Bautyp wird als „rivellino francese“, französisches Bauwerk, bezeichnet wird.
Leonardos zahlreiche Pläne für die Befestigung des Castello wurden vom unglücklich agierenden Ludovico aber nicht genutzt. Die Franzosen dagegen, die 1499 wie ein Sturm über die Lombardei hereinbrachen, wussten diese innovativen Pläne sofort richtig einzuschätzen und setzten diese auch um. Leonardo weilte bis Dezember 1499 in Mailand. Am 1. Ferbuar 1500 waren die Rivellini von Mailand bereits vollendet. Unter französischer Herrschaft – welche bis 1513 andauerte – wird die Lombardei zu einer einzigen Baustelle. Doch Überreste davon sind nur noch selten zu finden und auch historiographisch ist dies eine Geschichte, die noch aufzuarbeiten ist.
Diese Aufgabe hat jetzt der italienische Historiker Marino Vigano, ausgehend von einem Fund in Locarno übernommen. Vigano promovierte in Geschichte der Militärarchitektur an der Universität von Pavia und lehrt heute an der Universität Cattolica in Mailand. Er hat sich mit wenigen, aber wuchtigen Publikationen hervorgetan. Eine Arbeit zu Leonardos „rivellini francesi“ der Lombardei ist in Vorbereitung. Den Beifall anderer Experten hat diese Arbeit jedoch bereits vor ihrer Vollendung geerntet. Der bedeutende Leonardo-Forscher, Carlo Pedretti von der University of California in Los Angeles, äusserte sich bereits dahingehend er sei „nicht nur vom Argument im Ganzen, sondern vor allem von der Sorgfalt und dem Scharfsinn des Autors überzeugt“.
Castello Sforzesco
Frühe Skizze von Leonardo da Vinci für ein Artillerie-Bollwerk am Castello Sforzesco.
Modell eines Rivellino
Modell eines solchen polygonalen Bollwerkes von Leonardo da Vinci. 
Wenn Vigano Recht behält, dann wird das betroffene Stück Schlossmauer – Locarno`s Rivellino – Weltruhm erlangen und Leonardo wird eine Schlüsselstellung in der Geschichte der Militärarchitektur einnehmen. Denn seine polygonale Bastion ist der Prototyp einer voll ausgebauten Befestigungstechnik, die Europa bis weit ins 19. Jahrhundert hinein beherrschen sollte. Heute steht das Rivellino von Locarno in einem verkommenen Hinterhof versteckt – dafür aber vollständig und sehr gut erhalten. Denn der Platz hinter der Häuserzeile in der Via Rusca wird durch den riesigen Klotz des bugförmigen Vorsprungs so gut wie unbrauchbar gemacht – und ist bis heute ungenutzt geblieben.
Von diesem vereinzelten Überrest der 1532 durch die Eidgenossen zertrümmerten Festung dürfte über die Hälfte seiner Gesamthöhe von acht Metern, unter dem heutigen Strassenniveau begraben liegen. Dafür geben die mannshohen Löcher im heute sichtbaren Mauerwerk seinen Ursprung zu erkennen. Denn diese gähnenden Öffnungen, die heute den Zugang zur riesigen, inneren Galerie zu gewähren scheinen, haben in der Tat Kanonen beherbergt – mitsamt den Soldaten die sie betätigten. Von innen wird man schnell vier weiterer Öffnungen gewahr – den Kaminlüftungen über jeder Kanonenstellung. Hier im feuerspeienden Bauch des Schlosses sammelte sich nach jedem Schuss eine gewaltige Wolke heissen, toxischen Rauches, der schleunigst nach oben geleitet werden musste, sollten nicht die Verteidiger daran ersticken.
Panik unter den Franzosen
Solche Bollwerke sind in Norditalien sonst erst für die Zeit um 1530 belegt – als die Befestigung in Locarno bereits ihrer Funktion wieder beraubt wurde. Die Befestigung fand Erwähnung in einem Kaufvertrag, da es als Fundament beim Bau einer neuen Brücke, Verwendung finden sollte. Das Schloss war bereits 1513 an die Eidgenossen gefallen, daher hatte die Befestigung auch keine strategische Funktion mehr. Von Erweiterungen der Anlage ist auch in den „Eidgenössischen Abschieden“, den offiziellen Dokumenten der Tagsatzungen keine Rede, vielmehr wird ihre Schleifung in Aussicht gestellt. Von den finanziell, wie auch materiell strapaziösen Bauarbeiten während der vorangegangenen französischen Besatzung, wusste jedoch die Lokalbevölkerung noch jahrelang reichlich zu berichten. Vigano hat die Quellen dazu aufgespürt und wiederholte Klagen aufgefunden, in denen die Einwohner bei den Franzosen um ausgebliebene Entschädigungen ersuchen.
Der „grametter vonn Mayland“ – das war der Grand Maitre Charles II d‘Amboise, der Stellvertreter der französischen Krone in der Lombardei – habe den Ausbau des Schlosses verordnet. Aus der gesamten Umgebung kommen Klagen – nicht nur über die Zwangsarbeit, sondern auch über das Niederreissen zahlreicher Häuser, denn die Franzosen „haben wöllen witeren unnd buwen, des glich den Blatz vor dem Sloss grösseren“.
Viganos archivarische Leistung ist es, diese Berichte in den Kontext der französischen Fortifikation der Lombardei zu rücken. Denn 1507 stürzte sich Charles d’Amboise in eine fieberhafte Baukampagne. Zuvor – im Mai 1506, hatte sich die Krise zwischen Kaiser Maximilian und dem französischen König Louis XII zugespitzt; im Sommer 1507 glaubten die Franzosen, der Einfall Maximilians in die Lombardei – durch die Eidgenossen unterstützt – stehe unmittelbar bevor. Charles nimmt deshalb die Fortifikationspläne umgehend wieder auf, die sein Vorgänger um 1500 erarbeitet hatte und nach denen sämtliche Städte im Grenzgebiet, darunter Como, Chiavenna, Domodossola und „Luquerne“ (Locarno), mit neuen Bollwerken und moderner Artillerie versehen werden sollten.
Über die vorgenommenen Bauarbeiten wird von verschiedenen Chronisten und Gesandten am Hofe Charles berichtet. Sie stimmen überall bis ins Detail überein; es ist immer dieselbe rasant durchgeführte Prozedur und sie lässt überall dieselben Klagen zurück wie in Schweizer Zeugnissen zu Locarno; Zwecks Erweiterung des Platzes vor den Schlossmauern werden Häuser abgerissen – aus ihren Trümmern stellt man unter Zwangsarbeit neue Bollwerke zur Aufnahme der Artillerie auf. Die Erweiterung des Platzes soll der Freihaltung der Schusslinie dienen und möglichen Schutz für feindliche Geschütze entfernen. Die meisten dieser Arbeiten mussten in weniger als zwei Monaten verrichtet werden.
Leonardo im Dienste der Franzosen
Der Historiker Vigano folgert daraus: Charles hat dies wohl in Locarno – der nach Norden hin am kritischsten exponierten Festung seiner Provinz – nicht anders gemacht als sonstwo in der Lombardei. Hier genügten aber nicht die herkömmlichen, hufeisenförmigen Bollwerke, die er sonst bauen liess. In Locarno wollte er es noch besser machen und dafür wusste er auch den einzig richtigen Mann: Leonardo da Vinci.
Charles hektische Baukampagne wird nämlich von ebenso regem Briefverkehr mit der Signoria von Florenz – in deren Diensten sich Leonardo inzwischen befand – begleitet. Die erste Bitte um eine Beurlaubung von Leonardo datiert vom Mai 1506. Leonardo kommt nach Mailand, soll aber nur drei Monate bleiben dürfen. Doch Charles und sein König Louis wenden, um Leonardo zu behalten, ähnliche Mühen auf wie für die Lombardei, und es gelingt ihnen durch wiederholten Briefwechsel den Mann, den Louis XII im Juli 1507 als „notre peintre et ingenieur ordinaire“  beschreibt, bis August 1507 für sich zu beanspruchen. Im Sommer erreicht die Fortifikations- kampagne ihren Höhepunkt. Zwischen dem 13. und dem 22. Juli – so viel ist den Zeugnissen zu entnehmen – machte Charles d’Amboise in einer Rundreise zur Inspektion seiner Festungen, einen Abstecher „in die Gegend von Bellinzona“. Aber Bellinzona befand sich schon seit 1503 in den Händen der Eidgenossen. Ihm südwestlich gegenüber, mit dem Lago Maggiore im Rücken befand sich nur Locarno.
Einen klareren Hinweis darauf, wozu die Franzosen Leonardo so dringend behalten wollten, gibt es bis jetzt nicht. Auch liegt noch kein Beweis vor, dass Leonardo selbst je in Locarno war. Aber die historisch belegten Tatsachen stellen sich nach Viganos Arbeit bis jetzt so dar: Die Franzosen bauten zwischen 1502 und 1512 das Rivellino von Locarno, eine Bastion wie sie bisher in Norditalien allein durch Leonardo da Vinci entstanden war. Die Planung und Errichtung eines solchen Bollwerkes war in dieser Zeit ein Abenteuer, bei dem man sich alleine auf Erfahrungswerte stützen konnte. Diese mussten aber jedes Mal nach allen schusstechnischen und strategischen Gesichtspunkten an eine neue Topographie angepasst werden. In der Lombardei war zu diesem Zeitpunkt kein anderer als Leonardo tätig, der die  zu solcher Arbeit nötigen Kenntnisse – oder „Geheimnisse“ besass.
portrait von leonardo
Selbstportrait des begnadeten Künstlers und Konstrukteurs da Vinci.
© Seitenlayout  by Reinhard Dietschi, im April 2005
Der Text stammt aus der NZZ am Sonntag vom 20. März 2005 und wurde von Morgan Powell geschrieben. Ich hoffe der Autor und die Herausgeber sind so freundlich mit die Veröffentlichung an dieser Stelle zu gestatten.
Vielen Dank den fleissigen Autoren und Forschern, die all diese Informationen zusammengetragen haben! Leider habe ich bis jetzt kein weiteres Material zur obigen These mehr gefunden - vielleicht kann mir ja einer meiner Leser einen Tipp geben.
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